2021 endet mit einem Rückschritt, 2022 beginnt mit einer aufflammenden Diskussion um die Nachhaltigkeit von Atom-Energie und fossilen Energieträgern: Am 31.12.2021 stellte die EU-Kommission die lange erwarteten Regeln für die Einbeziehung von Erdgas und Kernenergie in die EU-Taxonomie zu nachhaltigen Investitionen vor – zunächst in einem technischen Kommentierungsentwurf.

Das Problem: Wie können Atomstrom und Erdgas vereinbar mit den Klimazielen der EU auf wissenschaftlicher Grundlage als „nachhaltig“ gelten? Dieser Rechtsakt folgt unmittelbar auf die Anfang Dezember 2021 verabschiedeten ersten Regelsätze zur Klimaverträglichkeit einer ganzen Reihe anderer wirtschaftlicher Aktivitäten, die bereits sehr kontrovers diskutiert worden waren.

Plötzlich nachhaltig

Das EU-Parlament hat im Juli 2022 dann das Ausbremsen der europäischen Energiewende und der ökologischen Transformation beschlossen. Die Abgeordneten hatten die Chance, den delegierten Rechtsakt zur EU-Taxonomie abzulehnen, der die Aufnahme von fossilem Erdgas und hochriskanter Atomkraft in die EU-Taxonomie vorsieht. Wie zuvor die Kommission ignoriert das EU-Parlament Wissenschaft und breite Öffentlichkeit.

Der zweite delegierte Rechtsakt der EU-Taxonomie verleiht Erdgas und Atomkraft ein "grünes" Etikett, trotz der hohen klimaschädlichen Emissionen von fossilem Gas und der radioaktiven Abfälle, die bei der Atomkraft entstehen. Dies birgt die Gefahr, dass die Finanzierungskosten dieser schädlichen Energiequellen sinken, und damit der Ausbau erneuerbarer Energien wie Wind- und Solarenergie blockiert wird.

Matthias Kopp, Leiter Sustainable Finance beim WWF Deutschland: "Es ist eine große Enttäuschung: Das EU-Parlament schafft die Grundlage für strukturelles Greenwashing. Erdgas und Atomkraft sind nicht nachhaltig. Private Anlegerinnen und Anleger werden nicht in 'nachhaltige' Produkte investieren wollen, die das Taxonomie-Label tragen. Den Finanzinstituten hilft die Taxonomie in dieser Form nicht, weil sie keine Klarheit und Eindeutigkeit mehr verspricht. Die Glaubwürdigkeit der EU-Taxonomie ist dahin. Die EU hat ein Kernstück ihres Green Deals und der notwendigen Transformation für kurzfristige politische Interessen geopfert. Sie zeigt damit auch klar, dass eine wirkliche Strategie für die Einbindung des Finanzsystems als tragende Säule der Transformationsziele nicht besteht oder verfolgt wird.“ 

Was ist die EU-Taxonomie?

Das Gebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel, Belgien © mdmworks / iStock / GettyImages
Das Gebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel, Belgien © mdmworks / iStock / GettyImages

Die EU-Taxonomie ist ein Klassifizierungssystem ab wann und welche wirtschaftlichen Aktivitäten als nachhaltig einzustufen sind. Seit Juni 2020 ist die Taxonomie-Regulierung formal in Kraft. Ihr Ziel ist es, die notwendigen Summen für die dringend erforderliche ökologische Transformation der europäischen Wirtschaft zu mobilisieren. Die technischen Auslegungsdetails wurden seitdem festgelegt, aktuell für diese beiden Energieerzeugungswege diskutiert und für die weiteren vier Umweltziele über Klima hinaus auch noch bis Ende 2022 entwickelt.

Damit dabei tatsächlich von „Finanzierung nachhaltigen Wachstums“ die Rede sein kann, muss für alle Beteiligten eindeutig klar sein und werden, wie der Wandel über Wirtschaftssektoren hinweg aussehen soll, welche Standards und Kriterien jeweils gelten und woran diese ausgerichtet sein sollen. Mit der Taxonomie werden zum ersten Mal europaweit verbindliche Regeln geschaffen, die festlegen, welche Wirtschaftsaktivitäten künftig als ökologisch nachhaltig zu werten sind – und welche nicht. Ein zentraler Baustein der Taxonomie ist dabei, dass neben der „substanziell positiven“ Nachhaltigkeitswirkung kein signifikanter Schaden in den definierten sechs Umweltzielen verursacht werden darf, die verschiedene Aspekte umfassen.

„EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (…) gefährdet ihren eigenen Green Deal. Nur eine glaubwürdige Taxonomie kann das Herzstück für die Führungsrolle der EU bei nachhaltigen Finanzen werden.“

Matthias Kopp, Leiter Sustainable Finance beim WWF Deutschland

Atomenergie als Goldstandard?

Atomkraftwerk in Mühlheim, Deutschland @ Markus Volk / iStock / Getty Images
Atomkraftwerk in Mühlheim, Deutschland @ Markus Volk / iStock / Getty Images

Alles in allem bedeutet die EU-Taxonomie einen Epochenwechsel: An die Stelle diverser nationaler, größtenteils freiwilliger Kriterien, Vorstellungen und Etikettierungen von „nachhaltig“ tritt mit ihr ein einheitliches und ambitioniertes europäisches Bewertungssystem, das letztlich auch Grundlage für Labels und Kennzeichnungen im Finanzmarkt werden soll. Mit Hilfe klar wissenschaftlich basierter Kriterien – so zumindest der formale Anspruch.

Doch die Entscheidung der EU-Kommission, Atomenergie und fossiles Erdgas als Energieträger in der Taxonomie positiv einzustufen, bietet Zündstoff. Die Erreichung der Klimaziele ist mit Blick auf Erdgas damit mindestens gefährdet.

Nach wie vor stehen sich bei diesen Punkten unterschiedliche Auffassungen gegenüber: Während manche Länder die Beiträge von Atomenergie zur Erreichung von Klimazielen wegen vermeintlich niedriger Co2-Emissionen positiv sehen, ist dies für andere – darunter Deutschland – aufgrund des „Do-No-Significant-Harm“ Kriteriums grundsätzlich ausgeschlossen. Eine derartige Schwächung der Prüfung auf schädliche Auswirkungen nimmt dem Instrument Taxonomie seine strukturelle Stärke. Zudem ist Anlegern in Finanzprodukten in europäischen Ländern nicht zu vermitteln, warum nachhaltige Anlageprodukte Kernenergieinvestments enthalten – zumindest nicht einheitlich und damit harmonisierend, was genau der Anspruch und Ziel der Auswirkungen der Taxonomie in Ihrer Anwendung sein sollte: europäische Kapitalmärkte und deren Finanzflüsse harmonisiert zu lenken.

Auch beim Energieträger Erdgas gehen die Meinungen auseinander: Für die einen ist Gas akzeptable „Brückentechnologie“ (übrigens auch für Deutschland), für die andere ein fossiler Energieträger mit deutlich zu hohen Treibhausgasemissionswerten. Insbesondere ein befürchteter Ausbau von Erdgas würde die Klimaziele unerreichbar machen, wenn hier nicht glasklare wissenschaftsbasierte Pfade zum Beispiel zu einem möglichen Umrüstungsweg für Kraftwerke oder Fernwärmenetze auf klimaverträglichen und nachhaltigen Wasserstoff festgeschrieben werden.

Zu wenig Zeit für die drängendsten Fragen

„Bei der Einstufung von Erneuerbaren Energien hat die EU-Kommission öffentlich gefragt, ob diese nachhaltig sind. Bei Atomkraft und Erdgas traut sie sich das nicht,“ meint Matthias Kopp, Leiter Sustainable Finance beim WWF Deutschland. „Eine verkürzte, nicht öffentliche Konsultation kann nicht kaschieren: "Die EU-Kommission weiß, dass eine EU-Taxonomie mit Atomkraft genauso den wissenschaftsbasierten Weg verlässt, wie eine nicht sehr restriktive Einstufung von Erdgas,“ so Kopp weiter.

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