„Nature“-Studie bestätigt die desolate Zerstückelung europäischer Flüsse/ WWF sieht wissenschaftlichen Auftrag für eine politische Trendwende

Weilheim/Berlin 18.12.2020: Die Zahl der Querbauwerke, welche die Flüsse Europas un-terbrechen und so die Artenvielfalt gefährden, liegt laut einer neuen Studie aus der Fachzeit-schrift „Nature“ weit höher als bisher angenommen. Über eine Million Querbauwerke wie beispielsweise Wehre und Kleinwasserkraftanlagen blockieren Europas Flüsse, so die Studi-enautoren. Im Schnitt zerschneidet demnach alle 1,35 Kilometer ein Querbauwerk die Flüsse. Die „Nature“-Studie deckt sich mit erschreckenden Zahlen, die eine WWF-Studie im Sommer auf Basis von Daten des Bayerischen Landesamts für Umwelt für die bayerischen Gewässer ermittelt hat: In Bayern blockiert rein rechnerisch sogar alle 500 Meter eine Barriere den Weg der Fische sowie den Durchgang des Sediments in Form von Sand und Geröll. Knapp 57.000 Querbauwerke wie Abstürze, Wehre und Staudämme zerschneiden Bayerns Flüsse. Nur 11 Prozent dieser Barrieren sind „frei durchgängig“, können also problemlos von Fischen überwunden werden.

Die Forschenden hinter dem „Nature“-Artikel fordern, überflüssige Barrieren schnellstmög-lich zu entfernt. Nur so lassen sich die Ziele der EU-Biodiversitätsstrategie erreichen, wonach bis 2030 25.000 Flusskilometer von Barrieren befreit und wieder frei fließen sollen. Wolf-gang Hug, Leiter des WWF-Büros in Bayern stimmt zu, er sieht in der Nature-Studie einen klaren politischen Handlungsauftrag. Die Staatsregierung müsse alle Querbauwerke erfassen, und den Rückbau von Barrieren vorantreiben, anstatt bestehende Querbauwerken mit neuen Kleinwasserkraftanlagen auszurüsten. Hug sagt: „Die bayerischen Flüsse leiden an Verstop-fung, fließen kaum noch natürlich. Um gegenzusteuern müssen wir diesen Kleinwasserkraft-Wahnsinn beenden. Denn die Förderung und der Ausbau von Kleinwasserkraft bringen die Energiewende nicht voran. Gerade einmal 1,3 Prozent des bayerischen Stroms werden derzeit von den rund 4000 Kleinwasserkraftwerken (Leistung < 1MW) erzeugt. Dafür lohnt es sich nicht, die biologische Vielfalt in unseren Gewässern zu opfern.“ Der WWF fordert daher den konsequenten Schutz der letzten Wildflussabschnitte, den Verzicht auf den Neubau von Was-serkraftwerken und stattdessen ein ambitioniertes „Rückbau-Programm“ für Barrieren. Ziel einer zukunftsgerichteten Flusspolitik müsse es sein, mehr frei fließende Flussabschnitte zu schaffen und Auenlebensräume wiederzubeleben.

Laut der „Nature“-Studie sind rund zwei Drittel der eine Million Barrieren, die die europäischen
Flüsse zerschneiden, kleiner als zwei Meter. Deshalb werden sie bei Erfassungen häufig
übersehen. Zu Unrecht, denn sie sind genauso problematisch für die Durchgängigkeit der
Flüsse. „Small is not beautiful“, urteilen die Forschenden hinter der „Nature“-Studie. Sie fordern,
auch die negativen Auswirkungen kleiner Barrieren stärker zu berücksichtigen. Es gilt,
konsequent alle Querbauwerke zu erfassen, insbesondere die kleinen. Gerade die kommen in
Bayern sehr häufig vor: Der Anteil der bayerischen Querbauwerke, die kleiner als zwei Meter
sind, liegt laut Hug bei 95 Prozent. Hug sagt: „Die Nature-Studie erfasst also ein sehr bayerisches
Problem. Nun muss eine bayerische Lösung her.“

Erst gestern hat der Bundestag eine Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) beschlossen.
Der WWF kritisiert an der Reform, dass sich die Vergütung des Stroms aus Kleinwasserkraftanlagen
(Leistung <500 kW) um 3 Cent/kWh erhöhen wird. Damit soll das Überleben
kleiner Wasserkraftanlagen gesichert werden, die aufgrund des Klimakrise in den letzten
Jahren erhebliche Stromerträge verloren haben. Hug kommentiert: „Es braucht dringend
ein Umdenken: Weg von der kurzsichtigen Verbauung unserer Landschaft. Statt unrentable
Kleinwasserkraftanlagen weiter zu subventionieren, brauchen wir eine strategische Gesamtplanung
für eine naturverträgliche Erneuerbaren-Energie-Wende mit klarem Fokus auf Solar
und Wind.“

Hintergrund Artenvielfalt in Süßwasserökosystemen

Nur etwa 15 Prozent der Flusssysteme in Bayern sind in einem „guten ökologischen Zustand“,
der in der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie definiert wird (Zustandsbewertung von
2015). Alle anderen entsprechen nicht den Anforderungen des deutschen und europäischen
Wasserschutzes – und das 20 Jahre nach Erlass der Wasserrahmen-Richtlinie.

Kontakt

Rebecca Gerigk

Pressesprecherin, Berlin