Von Gold über Öl bis hin zu Nickel: Boreale Wälder in den nördlichen Regionen Russlands und Kanadas bergen eine Menge an Schätzen für die Industrie. Zudem sind Nadelbäume dort auch bei der Holzindustrie sehr begehrt. Die Gier der Unternehmen gefährdet das dortige Ökosystem. Im Interview sprechen Russlandexperte Markus Radday vom WWF, Waldfachmann Peter Gerhardt von denkhausbremen und Tobias Kind-Rieper, globaler Leiter für Bergbauthemen beim WWF, über die aktuelle Lage.

26.06.2023 Update: WWF Russland verlässt internationales WWF-Netzwerk

Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat am 21. Juni 2023 die Aktivitäten des World Wide Fund for Nature (WWF) in Russland für „unerwünscht“ erklärt. Diese Entscheidung folgt auf eine bereits im März bekannt gegebenen Verlautbarung, in welcher der WWF als «ausländischer Agent» eingestuft wurde.

Der WWF Deutschland und das gesamte, weltweite WWF-Netzwerk sind erschüttert darüber, dass unsere gemeinsame Naturschutzarbeit als „auf dem Territorium der Russischen Föderation unerwünscht“ eingestuft wird. Infolgedessen und mit sofortiger Wirkung hat der WWF Russland die schwierige Entscheidung getroffen, nicht länger Teil des WWF-Netzwerks zu sein.

Herr Gerhardt, Sie beschäftigen sich bereits seit mehr als 30 Jahren mit dem Zustand der Wälder weltweit, wie ist die aktuelle Lage?

Luftaufnahme eines borealen Waldes © Ola Jennersten / WWF Schweden
Luftaufnahme eines borealen Waldes © Ola Jennersten / WWF Schweden

Peter Gerhardt: Die Wälder sind global unter Druck. Über die zurückliegenden Dekaden haben sie Jahr für Jahr eine Fläche von zehn bis 15 Millionen Hektar eingebüßt. Das ist mehr als die komplette Fläche Griechenlands. Die Gier nach Rohstoffen ist dabei fast überall die Haupttriebfeder. In den tropischen Regionen sind die Gründe für Waldverlust vielfältig, in den borealen Wäldern ist es vor allem die Holz- und Zellstoffindustrie.  

Markus Radday: Bei borealen Wäldern ist es allerdings wichtig, das Ganze ins Verhältnis zu setzen: Die Fläche, die die Industrie dort bisher kaputt gemacht, ist zum Beispiel im Vergleich zu den Flächen in den Tropen gering. Eine große Gefahr für boreale Wälder liegt derzeit im Klimawandel, wenngleich auch der in Teilen auf die Gier nach Rohstoffen zurückzuführen ist. Die Permafrostböden, auf denen die Bäume in den nördlichen Regionen Russlands und Kanadas stehen, drohen aufzutauen. Dann könnte es zu einer Kettenreaktion kommen. Die Waldbrände werden zunehmen und die borealen Wälder großflächig zerstören. 

Wie gut können sich boreale Wälder vom Eingriff der Menschen erholen?

Markus Radday: Genau so schlecht wie etwa tropische Wälder. Viele Menschen denken, dass tropische Wälder sich viel schneller erholen könnten, weil schon nach einem Jahr dort wieder ein relativ dichter Pflanzwuchs entsteht. Diese „Sekundärvegetation“ hat aber mit der ursprünglichen nichts zu tun und ist ökologisch verarmt. Bei borealen Wäldern ist das nicht anders: Deren Bäume, wie zum Beispiel Fichten, können bis zu 400 Jahre alt werden – auch wenn sie vielleicht nur zehn Meter hoch werden. Sie wachsen langsam, müssen sich gegen den Schnee rüsten, versuchen, möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten und stehen deshalb oft sehr gedrungen dar. Damit so ein Ökosystem erneut entstehen kann, braucht es drei bis vier Generationen.

Herr Kind-Rieper, boreale Wälder haben das Pech, dass unter ihnen eine ganze Menge wichtiger Rohstoffe schlummern. Welche sind derzeit für die Industrie besonders interessant?

Tobias Kind-Rieper: In Russland sind es derzeit vor allem die Nickelvorkommen, die gefragt sind. Hinzu kommt zum Beispiel der Abbau von Kohle und Phosphaten für Düngemittel. In Kanada ist es vor allem der Goldbergbau und die Förderung von Öl. Wie lukrativ welcher Rohstoff ist, hängt von der Weltlage ab. Es gibt auch Minen, die über Jahre stillstehen, weil die Preise für den entsprechenden Rohstoff zu schlecht sind. Da die Öl-Bestände weltweit abnehmen, wird Öl aus den Wäldern Kanadas sicher immer gefragter. Nickel braucht es für Batterien, auch diese Förderung dürfte sich langfristig lohnen. Gold ist sowieso immer gefragt. Und dann hängt natürlich noch viel an den Umweltstandards, die eine Mine erfüllen muss. Je geringer die sind, desto lukrativer wird für ein Unternehmen die Förderung – und die Standards sind in Kanada höher als in Russland. 

Was macht gerade die Förderung des Öls in Kanada so gefährlich für die borealen Wälder?

Baumfällung in Alberta, Kanada, um Platz für eine neue Teersandmine zu schaffen. © Global Warming Images / WWF
Baumfällung in Alberta, Kanada, um Platz für eine neue Teersandmine zu schaffen. © Global Warming Images / WWF

Markus Radday: Das Rohöl liegt dort gewissermaßen als zähflüssige Masse im Sand direkt unter der Oberfläche. Um das zu fördern, wird der Wald komplett abgeholzt. Das Extrahieren braucht anschließend Unmengen an Energie. Es bleibt viel verseuchtes Wasser zurück, das in Teichen gespeichert wird. Das alles macht es zur dreckigsten Fördertechnik von fossilen Brennstoffen, weltweit. Die kanadische Regierung hat bereits angekündigt, die Förderung dieses Öls noch weiter auszubauen. Das Bild von Kanada als besonders nachhaltige Nation, die viele im Kopf haben, ist somit schlicht falsch, das muss man so deutlich sagen.

Tobias Kind-Rieper: Hinzu kommen natürlich noch Schienen, die über hunderte Kilometer den Wald zerschneiden, um die Rohstoffe auch abzutransportieren … 

Markus Radday: … und dass immer mehr Nationen auch direkt in die Verarbeitung der Rohstoffe einsteigen wollen. Die ist noch um einiges lukrativer und das führt dazu, dass in völlig abgelegenen Regionen Städte aus dem Boden gestampft werden. Auch das zerstört Waldgebiete. 

Müssen die Unternehmen die genutzten Flächen nicht anschließend wieder renaturieren?

Tobias Kind-Rieper: Doch, das ist besonders in Kanada ausgeprägt. Schon während dort eine Mine betrieben wird, muss sie gleichzeitig Geld für die Renaturierung zurücklegen. Bei großen Minen beginnt die Renaturierung schon in den Bereichen, in denen die Förderung bereits abgeschlossen ist. Doch sobald einmal für eine Mine der Primärwald zerstört ist, kann das Ökosystem nie mehr das gleiche werden. 

Welche Rolle spielt die illegale Förderung von Rohstoffen?

Tobias Kind-Rieper: Den Holzschlag einmal außen vor gelassen gibt es in borealen Wäldern allerhöchstens vereinzelte kleine illegale Minen. Das Problem ist eher, dass die großen Unternehmen sich nicht an Umweltvorgaben halten – und das besonders in Russland kaum kontrolliert wird. Teilweise gibt es auch Minen in Gebieten, die eigentlich dem Naturschutz unterliegen müssten.

„Das Problem ist eher, dass die großen Unternehmen sich nicht an Umweltvorgaben halten.“

Tobias Kind-Rieper, globaler Leiter für Bergbauthemen beim WWF

Herr Gerhardt, Sie hatten schon zu Anfang angesprochen, dass es besonders die Holz- und Zellstoffindustrie ist, die die borealen Wälder gefährdet. Warum lohnt sich für die das Geschäft in unserem digitalen Zeitalter überhaupt noch?

Peter Gerhardt: Da kann ich im Wesentlichen zwei Gründe liefern. Zum einen das Geschäftsmodell Amazon – das Meiste wird tatsächlich für Pakete und Verpackungen gebraucht. Und außerdem gehen mehr Hygieneartikel über die Ladentheke. Dieser Papierverbrauch setzt dann auch die borealen Wälder unter Druck

Welches Ausmaß nimmt der Holzschlag in Russland inzwischen an?

Papierherstellung © hxdyl / iStock / Getty Images Plus
Papierherstellung © hxdyl / iStock / Getty Images Plus

Markus Radday: Die Forstwirtschaft in Russland ist seit dem Zerfall der Sowjetunion von einem Niedergang geprägt. Russland geht mit den Flächen, die abgeholzt werden, ziemlich sorglos um – weil es eben noch so viele unberührte Waldflächen gibt. Deshalb betreibt die Holzindustrie immer gleich einen kompletten Kahlschlag, kümmert sich auch nicht vernünftig um die Wiederaufforstung und dringt immer weiter in bislang unberührte Urwälder vor. Die Frage muss dort immer sein, wie viel Wald man forstwirtschaftlich nutzen sollte und wo man den Wald eher in Ruhe lassen sollte. Es geht um den richtigen Mittelweg. 

Wie weit ist Russland von diesem Mittelweg entfernt?

Markus Radday: Sehr weit, da viel zu wenig Ressourcen in die Pflege und Aufsicht der bereits genutzten Wälder gesteckt werden. Ein borealer Wald besteht eigentlich aus Fichten, Kiefern, Lärchen und Tannen. Nach dem Kahlschlag ohne entsprechende Neupflanzung, besiedeln Pappeln, Weiden und Birken die Flächen. Die findet man zwar auch in borealen Wäldern, aber nur vereinzelt und nicht auf riesigen Flächen. Die Forstwirtschaft bildet dort also über Jahrzehnte einen Wald, der für sie keinen kommerziellen Wert mehr hat und verlangt nach neuen Primärwäldern für den Holzeinschlag, da sie die Nadelbäume bevorzugt; ein Teufelskreis.

Herr Gerhardt, wie kann es sein, dass auch illegal geschlagenes Holz seinen Weg nach Deutschland findet?

Peter Gerhardt: Der Wille der Bundesregierung das zu verhindern, ist nur halbherzig. Wald ist in Deutschland zwar ein emotionaleres Thema als in anderen europäischen Ländern, es gibt aber von Seiten der Politik vor allem Lippenbekenntnisse. Es gibt zwar eine Holzhandelsverordnung der EU, es wird aber nur halbherzig umgesetzt – auch in Deutschland. In der Verantwortung des zuständigen Bundeslandwirtschaftsministeriums gibt es eine Behörde, die den gesamten Holzstrom in der Bundesrepublik kontrollieren soll. Die besteht gerade einmal aus zehn Leuten und Strafen bei Verstößen sind viel zu niedrig, das kann nicht funktionieren. Man darf das Thema nicht dem Markt überlassen, wir brauchen dringend stärkere Kontrollen.

„Die Frage muss dort immer sein, wie viel Wald man forstwirtschaftlich nutzen sollte und wo man den Wald eher in Ruhe lassen sollte. Es geht um den richtigen Mittelweg.“

Markus Radday, Referent Temperierte und Boreale Wälder beim WWF

Können Verbraucher in Deutschland dabei Druck machen?

Peter Gerhardt: Es ist immer schwer, mit dem Einkaufskorb die Welt zu retten. Wer in einen Baumarkt geht, müsste wahrscheinlich 200 verschiedene Fibeln dabeihaben, um genau über das Sortiment informiert zu sein. Verbraucher können aber darauf achten, auf Wegwerfprodukte zu verzichten, in denen Holz drinsteckt, den Starbucks-Becher zum Beispiel. Übrigens: einen Kamin mit Holz zu betreiben, mag zwar sehr schön sein, ist aber in vielen Fällen ökologischer Unsinn.

Wir werden irgendwann einmal an den Punkt kommen, an denen zumindest fossile Brennstoffe nicht mehr für die Energiegewinnung reichen werden. Ist das eine gute Zukunftsaussicht für die borealen Wälder, unter denen ja auch zumindest in Kanada Öl schlummert?

Peter Gerhardt: Ja und nein. In Europa gibt es zwar Pläne, um auf eine Bioökonomie umzustellen, also weg von fossilen Brennstoffen, hin zu nachwachsenden. Allerdings stuft die Politik in Europa und Deutschland das Verbrennen von Holz als klimaneutral ein. Das kritisieren sämtliche Umweltorganisationen. Außerdem kann es dazu führen, dass noch mehr Wälder abgeholzt werden, auch in Russland und Kanada. Das müssen wir unbedingt verhindern. 

Das Interview führte Jan Schulte. 

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