Bei Urwald mag man zunächst an tropischen Dschungel wie den Amazonas-Regenwald denken. Doch auch Europa war einst ein Kontinent der Urwälder. Viel ist von solchen ursprünglichen Wäldern allerdings nicht mehr übrig. Erst seit gut zwei Jahren ist ihre Verteilung in Europa etwas genauer erfasst. Doch wilder, ursprünglicher Wald kann auch wieder wachsen.

Immer dunkler wird der Wald, immer dichter wachsen die ausladenden Kronen zusammen. Kaum noch Sonnenlicht dringt bis zum Waldboden vor. Niedrige Pflanzen sterben ab und es überleben wenige, große Arten, die den Wald weiter verfinstern.

Das ist kein Horrorszenario, im Gegenteil. Das ist häufig die natürliche Entwicklung, wenn man einen älteren Wald aus der Nutzung nimmt und sich selbst überlässt. Erst nach 50 bis 150 Jahren wird der Wald langsam wieder sichtbar vielfältiger. Die Konkurrenz der Kronen ist so groß, dass schnell viele Bäume absterben. Totholz, Lücken und Lichtungen entstehen, Naturverjüngung setzt ein. Nun beginnt die dritte Phase der Urwaldwerdung. Der Wald verdichtet sich erneut, doch jetzt mit Bäumen verschiedenen Alters. Die Lücken schließen sich unterschiedlich schnell. Trotzdem fehlen zwischen den alten und neuen Bäumen immer noch mehrere Generationen. Bis zu einer annähernd natürlichen Altersverteilung der Waldbäume vergehen bei uns locker 600 Jahre und mehr.

Der „Urwald von morgen“

In Urwälder von morgen können sich Wälder ungestört vom Menschen entwickeln. © WWF
In Urwälder von morgen können sich Wälder ungestört vom Menschen entwickeln. © WWF

Soweit die Theorie. Noch immer ist der neue wilde Wald weit davon entfernt, die Eingriffe von Menschenhand nicht mehr zu bemerken. Ein echter Urwald wird er je nach Definition niemals sein. Und stellt man einen jüngeren, vielfältigeren Wald unter Prozessschutz, greift also nicht mehr in sein Ökosystem ein, verläuft die Entwicklung anders. Zumeist sind es jedoch die älteren, dunkleren Wälder, die an einigen Stellen Europas unter unterschiedlichen Bedingungen zu den sogenannten „Urwäldern von morgen“ werden dürfen. „Die wenigen noch vorhandenen Urwälder und unsere „Urwälder von morgen“ geben uns und unseren Nachkommen die seltene Möglichkeit, überhaupt noch unberührte Natur und natürliche Prozesse gesellschaftlich wahrnehmen zu können. Sie ermöglichen uns einen Blick in unsere Naturgeschichte“, so Dr. Susanne Winter, Programmleiterin Wald beim WWF Deutschland.

Europas Urwälder von gestern

Vor rund 6000 Jahren war Europa ein Kontinent der Urwälder und zu etwa 80 Prozent seiner Fläche von Wald bedeckt. Auch Deutschland und Länder des Mittelmeerraumes wie Spanien, in denen das heute nur schwer vorstellbar ist, waren fast vollständig bewaldet. In Nordeuropa und den Höhenlagen wuchsen vor allem Fichten, Kiefern und Lärchen. Im Flachland dominierten vielfältige Laubwälder mit Buchen, Eichen, Linden, Eschen und Hainbuchen und prägten Mitteleuropa und Deutschlands wilden Wald zum größten Teil.

Doch schon vorher, während sich die Wälder in Europa nach der letzten Eiszeit gerade erst wieder ausbreiteten, begann der sich ebenfalls ausbreitende Mensch, sie zu nutzen. Mit der Sesshaftwerdung und zunehmender Besiedelung erreichte der Bewaldungsgrad in Deutschland dann nach dem Ende des Mittelalters seinen Tiefstand. Seitdem ist der Waldanteil in DE kaum angestiegen. Die Wälder waren Siedlungen und Landwirtschaft gewichen, wurden stark beweidet und Holz war wichtiger Bau- und Brennstoff. Auch zum Beispiel für den Schiffsbau und in Form von Holzkohle als Energielieferant für Metallverhüttung und Glasbläserei. Allerdings war die Landschaft außerhalb des Waldes damals sehr viel vielfältiger als heute: Auenlandschaften und riesige offene Moore prägten die Landschaften. Wo Landwirtschaft betrieben wurde, gab es Hecken, Kleinräumigkeit u. v. m. In der modernen Landwirtschaft ist davon kaum etwas zu sehen. Heute sind insgesamt etwa 40 Prozent Europas bewaldet und nicht einmal mehr 0,2 Prozent unseres Kontinentes mit ursprünglichem, natürlichen Wald – auch Primärwald genannt – bewachsen.

Der Wert der alten Wälder

Die mächtigen Bäume, Krautschicht, Wurzeln und Böden der alten Wälder speichern um ein Vielfaches mehr Kohlenstoff als junge Baumplantagen und sind für den Klimaschutz unerlässlich. Primär- und Urwälder sind widerstandsfähige Ökosysteme, die auch der Forschung dienen. Sie können der Erderwärmung und zu erwartenden Extremwettern wesentlich besser trotzen als strukturarme Nutzwälder. Die Artenvielfalt naturnaher alter Wälder ist enorm. Europas verbliebene Primär- und Urwälder sind wichtige Refugien nicht nur für große Arten wie Bären, Luchse, Wölfe, Wisente und Wildkatzen. Es sind vor allem Arten, die man mit der Lupe suchen muss, die ohne Urwald weder Lebensraum noch Nahrung finden: Vom Aussterben bedrohte Käfer, Pilze, Flechten, Moose, Bodenorganismen, aber auch Vogelarten. Die Primär- und Urwälder Europas sind wichtiges Naturerbe und von globaler Bedeutung.

Alte Wälder sind wichtige Refugien vieler großer Arten. © Michel Gunther / WWF
Alte Wälder sind wichtige Refugien vieler großer Arten. © Michel Gunther / WWF

Die letzten Primär- und Urwälder Europas

Wilde Wälder haben einen hohen Naturschutzwert, sind aber in Europa aufgrund der historischen Landnutzung selten und häufig nicht einmal kartiert: Wo liegen die letzten alten Wälder Europas? Und sind beispielsweise die schwer zugänglichen und deshalb naturbelassenen Buchen auf der Abbruchkante von Rügens Kreidefelsen ein Stück deutscher Urwald? – Ja. Genau wie ähnlich kleine Restflächen Urwaldes, die sich bis nach Italien und an die Küste Spaniens finden, folgt man der Forschungsarbeit von Francesco Maria Sabatini, der heute an der Universität Halle forscht. Als Koordinator eines internationalen Expertenteams veröffentlichte Sabatini 2018 erstmals eine Karte der Primärwälder Europas. Die Studie gilt heute als verlässlichste und anerkannteste Quelle zur groben Verortung der letzten wilden Wälder Europas.

Echte Waldwildnis fast nur noch in Skandinavien und Südosteuropa

Rund 1,4 Millionen Hektar Primärwald gibt es wohl noch in Europa, verteilt auf 34 Länder. Mit Ausnahme von wenigen Hektar in den Buchenwäldern auf Rügen und im Nationalpark Kellerwald können wir in Deutschland heute nicht mehr von Urwald sprechen. Kleinere Flächen finden sich außerdem in den Alpen, Pyrenäen und den Apenninen. Nur in Finnland und den Karpaten, insbesondere dem Karpatenbogen, gibt es noch größere Flächen an unberührtem Urwald.

Die Primärwälder Finnlands sind Nadelwälder, vor allem im Norden und Nordosten des Landes. Sie sind Heimat der Sami, der bei uns früher als „Lappen“ bekannten Ureinwohner Nordeuropas. Nach großflächigen Abholzungen in der Vergangenheit durch die Papierindustrie, Finnlands wichtigsten Wirtschaftszweig, stehen inzwischen mehr als die Hälfte aller Primärwälder Finnlands unter striktem Schutz.

Wann ist ein alter Wald ein Primär- oder Urwald?

Wirklich ursprünglichen, vom Menschen nie veränderten Urwald gibt es heute in Europa bis auf wenige Flächen nicht mehr. Forscher wie z. B. Sabatini sprechen daher statt von Urwäldern von Primärwäldern und beschreiben diese entsprechend der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) als Wälder mit einer hohen Natürlichkeit, „ohne zu implizieren, dass diese Wälder nie durch den Menschen gestört wurden“. Denn selbst bei seit Jahrhunderten unberührten Wäldern ist eine frühzeitliche Nutzung beispielsweise als Waldweide nicht auszuschließen. „Wir definieren Urwald heute als ursprüngliche Waldökosysteme, deren Zyklus und Prozesse vom Menschen ungestört ablaufen und in denen kein Eingriff erfolgt oder erfolgte, der längerfristig Spuren hinterlässt“, erklärt Dr. Susanne Winter vom WWF Deutschland. „Dabei ist die Dauer entscheidend. Auch ein ehemals genutzter Wald kann nach Jahrhunderten des Ruhenlassens und dem Verschwinden aller menschlicher Einflussnahme wieder als sekundärer Urwald gelten.“ 

Karpatenbogen: Europas urigster Urwald

Europa größte noch verbliebene Urwälder befinden sich in den Karpaten © Michel Gunther / WWF
Europa größte noch verbliebene Urwälder befinden sich in den Karpaten © Michel Gunther / WWF

Wälder, die in Europa auch während der Eiszeit existierten, finden sich in den Karpaten, der Gebirgskette, die sich im Bogen über Tschechien, Rumänien und fünf weitere osteuropäische Staaten erstreckt. Es ist der Bereich Europas mit den größten noch verbliebenen Urwäldern – vor allem aus Buchenwäldern gebildet – und von entsprechend hohem Naturschutzwert. Hier wachsen riesige Bäume, leben Braunbären, Wölfe, Luchse und viele Totholzkäfer, Pilze und Moose. Doch der Holzeinschlag, legal wie illegal, in Rumänien und der gesamten Karpatenregion ist massiv.

„Jeder weitere Verlust unserer Urwälder ist dramatisch, weil wir schon so viel verloren haben.“

Dr. Susanne Winter, Programmleiterin Wald beim WWF Deutschland

So ist die Bezeichnung „Nationalpark“ beispielsweise kein geschützter Begriff. Wird ein Nationalpark nicht ausdrücklich nach Kriterien der Weltnaturschutzunion IUCN geführt, ist in manchen Ländern hier durchaus mehr Holzeinschlag zulässig, als ein Schutzgebiet verträgt.

Die verschiedenen Dimensionen des Waldschutzes

Um den Schutz der Wälder besser zu verstehen, ist es gut zu wissen, dass die IUCN (International Union for Conservation of Nature) den Schutz der Natur global in sechs Kategorien eingeteilt hat.  

Der strengste Schutz ist das Wildnisgebiet mit IUCN-Kategorie I. In Deutschland gibt es mit Ausnahme der Königsbrucker Heide keine Gebiete, die nach der IUCN-Richtlinie in die erste Schutzkategorie der Wildnis fallen.  

Nationalparke sind laut IUCN erst Schutz-Kategorie II – und das nur bei entsprechend strengem Management. In deutschen Nationalparken ist das in der Regel der Fall. Doch auch IUCN gemäße Nationalparke haben auf ihrer Fläche bereits einen geringeren Schutz als Wildnisgebiete. So sind mehr verschiedene Maßnahmen im Wald erlaubt.  

Der Wald in den weiteren IUCN-Kategorien III bis VI ist noch weniger geschützt, wird meist vielfältig genutzt und naturschutzfachliche Aspekte werden lokal sehr unterschiedlich berücksichtigt. Dort sind die alten Primärwälder nicht gut aufgehoben. Der Schutz der letzten europäischen Primärwälder sollte großflächig noch verstärkt werden. Sabatini und seine Kolleg:innen zeigen auf, dass 11 Prozent dieser „Sahne“-Wälder noch völlig ungeschützt sind und über 40 Prozent nur einem schwächeren Schutz unterliegen. Gerade in wichtigen Ländern des Karpatenbogens ist viel Luft nach oben. Aber auch in Norwegen, Schweden, Polen und Deutschland. 

Neue Urwälder schaffen

Totholz im Schwarzwald © Claudia Nir / WWF
Totholz im Schwarzwald © Claudia Nir / WWF

In Urwäldern wachsen Pflanzen unterschiedlichster Entwicklungsstadien nebeneinander, stehen und liegen große Mengen Totholz und ist der Boden meist humusreich. Übergibt man einen bisher genutzten Wald heute in den Prozessschutz, wird sein Bestand in Mitteleuropa im Schnitt noch die ersten 2000 Jahre von seinem Ausgangszustand geprägt sein. Erst danach kann man von einem durch den Menschen unbeeinflussten Wald sprechen. „Gleichzeitig beginnen die ersten wichtigen Prozesse sofort“, erklärt Susanne Winter. Es bilden sich Höhlen, die biologische Vielfalt wächst, Insekten und Pilze besiedeln das Totholz. „Aber man darf sich eine Urwaldwerdung nicht als lineare Entwicklung vorstellen. Und bei allen Vorhersagen, die man treffen kann, ist es in diesen langen Zeiträumen wahrscheinlich, dass ein Jahrhundert- oder gar Jahrtausendsturm den gesamten Wald umwirft. Auch das gehört zur natürlichen Entwicklung dazu“, so Susanne Winter.

Europas „Urwälder von morgen“

Deutschlands erster großer „Urwald von morgen“ hat bereits das erste halbe Jahrhundert seiner eigenständigen Entwicklung hinter sich und wurde nach 25 Jahren zunächst von Borkenkäfern befallen und großflächig zum Absterben gebracht. Doch dort, wo einst die Schädlinge jede Menge Totholz geschaffen haben, steht heute schon wieder dichter und vielfältiger Bewuchs – im Nationalpark Bayerischer Wald. Die Borkenkäfer haben den Umbau des Waldes im Endeffekt beschleunigt.

In Großschutzgebieten wie Nationalparks über die etwas kleineren Kernzonen von Biosphärenreservaten bis hin zu Bannwäldern, die es in jedem Bundesland gibt, werden heute in Deutschland und auf ähnliche Weise in ganz Europa Wälder dem Eingriff des Menschen entzogen, um sich zu „Urwäldern von morgen“ zu entwickeln. Weitere Prozessschutzwälder entstehen auf ehemaligen Truppenübungsplätzen, aber auch privaten Flächen, die der WWF und andere Organisationen zum Teil erwerben, um die natürliche Waldentwicklung zu fördern. Alle diese Ansätze zahlen ein auf Deutschlands nationale Strategie zum Erhalt der biologischen Vielfalt mit dem Ziel, fünf Prozent der deutschen Wälder ihrer natürlichen Entwicklung zu überlassen – und auf die EU-Biodiversitätsstrategie, die bis 2030 die biologische Vielfalt in Europa auf den Weg der Erholung bringen will.

Aber ist das wirklich Urwald?

Streng genommen unterliegt auch ein Wald, den man völlig in Ruhe lässt, menschlichen Einflüssen. Denn unsere Urwälder von heute und morgen sind Flächen innerhalb einer Kulturlandschaft. Intensive Landwirtschaft, Stickstoff-Emissionen durch Verkehr und Industrie und Gewässerveränderungen hinterlassen ihre Spuren. Dazu kommt der menschgemachte Klimawandel, der die Urwälder ebenfalls beeinflusst. Trotzdem darf hier wachsen, was wachsen will. Viele vom Aussterben bedrohte Arten können nur in diesen unberührten Inseln in ausreichend großen Populationen überleben. Und die Kohlenstoff speichernde Waldbiomasse stabilisiert das Klima.

„Vielen Menschen fällt es unendlich schwer, natürliche Prozesse dauerhaft zuzulassen.“

Dr. Susanne Winter, Programmleiterin Wald beim WWF Deutschland

Urwald auch im Wirtschaftswald

Über 90 Prozent der Waldflächen in Europa werden für den Holzeinschlag genutzt. © Sonja Ritter / WWF
Über 90 Prozent der Waldflächen in Europa werden für den Holzeinschlag genutzt. © Sonja Ritter / WWF

Auch im Wirtschaftswald können und müssen Urwald-„Häppchen“ entstehen. Genauer: In die Bewirtschaftung unserer Wälder können und müssen Strukturelemente von Urwäldern integriert werden. Denn über 90 Prozent der Waldflächen in Europa werden für den Holzeinschlag genutzt. Naturnah wirtschaftende Forstleute verzichten auf intensive Holzentnahme und Kahlschlag, lassen kranke Bäume stehen und Bäume altern, damit sie Mikrohabitate entwickeln können. „Während um uns herum noch wesentlich stärker in die Wälder eingegriffen wird, viel mehr Kahlschlag stattfindet und zum Beispiel noch mehr standortfremde Arten angebaut werden, gibt es lokal schon sehr naturnahe Bewirtschaftungsansätze“, beschreibt Susanne Winter die Situation.

Die Komplexität von Ökosystemen lässt sich nicht nachbauen. Indem wir in Deutschland und Europa die natürliche Entwicklung von Wäldern zulassen, schaffen wir ein vielfältiges Erbe statt landschaftlicher Verarmung. Es bleibt am Leben, was sich durchsetzt. Mit Blick auf den Klimawandel und die Forschung zu anpassungsfähigen Ökosystemen könnte das überlebenswichtig sein. Denn vielleicht wirken natürliche Prozesse anders als unsere gesellschaftlich ausgehandelten Entscheidungen es tun.

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