Produkten im Supermarkt und in der Drogerie sieht man ihren ökologischen Preis nicht an. Ein Gesetz, das Entwaldung stoppt und transparente Lieferketten verpflichtend einfordert, steht noch aus. Einige Unternehmen haben sich dazu bekannt, ihre Lieferketten frei von Entwaldung zu gestalten. Wie viel das bewirkt, hat die WWF-Entwaldungs-Scorecard untersucht – und überfällige Schritte benannt.

Aktienanlagekonzept für Öl- und Energieunternehmen © Kanoke_46 / iStock / Getty Images
Ein effektiver Schutz gegen Entwaldung beinhaltet auch verbindliche Anforderungen an den Finanzsektor. © Kanoke_46 / iStock / Getty Images

Wir sind Vizeweltmeister – und sollten alles dafür tun, das zu ändern: „Die EU ist durch den Import von Waren wie Soja, Palmöl, Rinderprodukten, Holz, Kaffee und Kakao für 16 Prozent der international gehandelten Tropenabholzung verantwortlich“, weiß Christine Scholl, Senior Referentin für Nachhaltige Agrarlieferketten beim WWF Deutschland. Lediglich die Bilanz Chinas sei noch schlimmer. Der Hunger auf Fleisch treibt den Bedarf nach Soja als Tierfutter nach oben. Auch für den Anbau von Palmöl, Kakao und Kaffee werden in Südamerika, Südostasien oder Zentralafrika enorme Flächen Wald gerodet. Alle 90 Sekunden verschwindet die Fläche eines Fußballfeldes für unseren XL-Konsum in der EU allein für Importe wie Soja, Palmöl oder Kautschuk.

Die Nachfrage nach diesen Rohstoffen treibt auch die Zerstörung von anderen wichtigen Ökosystemen voran, etwa von Savannen, Gras- und Buschland und Feuchtgebieten. Hinzu kommt der Bedarf nach Holz: Naturwald wird in Plantagen umgewandelt, die biologisch immens verarmt sind und kaum Kohlenstoff speichern. So importieren die Staaten der EU täglich Entwaldung. Mit Abstand ganz vorne dabei ist Deutschland. „Zwischen 2005 und 2017“, so Scholl, „wurden durchschnittlich 43.700 Hektar Tropenwald pro Jahr für Einfuhren in die Bundesrepublik vernichtet“.

Am 17. November 2021 hat die Europäische Kommission ihren Vorschlag für eine EU-Gesetzgebung vorgelegt, der den europäisch verantworteten Anteil an der globalen Entwaldung und Naturzerstörung stoppen soll. „Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung“, sagt Scholl, „doch der Entwurf hat noch entscheidende Schwächen, die behoben werden müssen.“ So würden darin bislang lediglich Wälder berücksichtigt, die Umwandlung und Degradierung anderer natürlicher Ökosysteme hingegen nicht.

Laut WWF-Recherche stammten 2018 fast ein Viertel der EU-Sojaimporte aus den untersuchten südamerikanischen Ländern aus der Cerrado-Savanne, wo die Zerstörung des Ökosystems zugunsten landwirtschaftlicher Nutzung besonders stark voranschreitet. „Solche Ökosysteme sind für Klima, Artenvielfalt und den Lebensunterhalt von Menschen vor Ort sehr wichtig und stehen jetzt schon unter enormem Druck, in industrielle Agrarflächen umgewandelt zu werden. Ebenso wenig sind darin verbindliche Anforderungen an den Finanzsektor zur Einhaltung der Sorgfaltspflichten enthalten.“

Christine Scholl, WWF. @ Marlena Waldthausen / WWF
Christine Scholl, Senior Referentin für Nachhaltige Agrarlieferketten beim WWF Deutschland @ Marlena Waldthausen / WWF

Ohne verlässliche Informationen sind Käufer:innen orientierungslos. Das allgemeine Wissen darum, dass der Konsum von Fleisch zur Zerstörung von Wäldern und anderen Ökosystemen beiträgt, haben die meisten Konsument:innen. Auch bei Kaffee und Schokolade liegt der Zusammenhang mit tropischen Naturräumen auf der Hand. Aber was bedeutet das für die Wahl anderer Produkte? Bei vielen Waren kommen wohl nur wenige Käufer:innen auf die Idee, sich Gedanken um Regenwälder oder andere Ökosysteme zu machen.

Doch von Margarine über Chips, Eier, Brot und Pizza bis hin zu Waschmitteln, Cremes, Shampoos und vielem anderen gilt: kann Regenwaldzerstörung enthalten! Ob und wie viel, lässt sich für die Käufer:innen schwerlich in Erfahrung bringen. Selbstverpflichtungen zu entwaldungs- und umwandlungsfreien Lieferketten haben nur wenige Unternehmen und die Überprüfung der Einhaltung durch unabhängige Prüfstellen ist wenig etabliert. Welche Händler und Hersteller machen bei welchen Produkten überhaupt Angaben und was sind diese Selbstverpflichtungen wert? Zu diesen Fragen gibt die Entwaldungs-Scorecard 2022 des WWF Deutschland eine Reihe von Antworten – und damit einen ersten größeren Überblick.

Zu einzelnen Rohstoffen führt der WWF regelmäßig Bewertungen durch. „Mit der Entwaldungs-Scorecard nehmen wir nun zum ersten Mal die Einkaufspolitik und Lieferketten deutscher Unternehmen mit Fokus auf Entwaldung unter die Lupe“, erläutert Maja-Catrin Riecher, Expertin für nachhaltige Agrarrohstoffe. „Wir haben uns dabei auf Palmöl, Soja, Kakao und Rinderzeugnisse konzentriert, also Produkte, die mit zu den Haupttreibern von globaler Entwaldung, Degradierung und Umwandung von Ökosystemen wie Savannen, Gras- und Buschland und Feuchtgebieten zählen.“ Die Untersuchung orientiert sich an einem Bewertungssystem, das auf den zwölf Grundprinzipien der Accountability Frameworks Initiative basiert, einer Koalition von Organisationen, die sich für den Schutz von Wäldern und anderen wichtigen Ökosystemen sowie von Menschenrechten einsetzen. Diese Koalition stellt ein ambitioniertes Rahmenwerk für die Etablierung von entwaldungsfreien und ethischen Lieferketten bereit.

Die Scorecard zum Download

Arabica-Kaffee-Anbau und -Ernte in zentralem Bergwald in Neuguinea. @ Lie Tangkepayung
Ohne verlässliche Informationen sind Käufer:innen orientierungslos, was die Nachhaltigkeit vieler Produkte angeht. @ Lie Tangkepayung

Der WWF hat bei 27 Unternehmen angefragt, darunter Supermarkt- und Drogerieketten sowie Markenherstellern: Sie wurden gebeten, einen bereits mit öffentlich verfügbaren Daten vorausgefüllten Fragebogen zu den Rohstoffen zu beantworten beziehungsweise zu verifizieren. Nur 15 von ihnen meldeten sich zurück. Bei der Bewertung muss sich der WWF zum großen Teil auf die korrekten Angaben der Unternehmen verlassen. Bei unklaren oder fehlenden Informationen gab man den Unternehmen die Möglichkeit, Daten nachzuliefern. „Einen Teil der von den Unternehmen zur Verfügung gestellten Daten konnten wir nicht unabhängig prüfen, weil zum Beispiel Informationen zu genutzten Mengen und Zertifizierungssystemen nicht öffentlich verfügbar sind“, sagt Riecher. „Diese Daten haben wir auf Plausibilität geprüft.“ Die Informationen wurden verschiedenen Kategorien zugeordnet – zum Beispiel den Landschaftsprojekten oder der genutzten Zertifizierung – diese wiederum unterschiedlich gewichtet und daraus Prozentwerte errechnet (siehe Scorecard). 

Maja-Catrin Riecher, WWF. @ Sebastian Noack / WWF
Maja-Catrin Riecher, Expertin für nachhaltige Agrarrohstoffe beim WWF Deutschland @ Sebastian Noack / WWF

„Wir gehen davon aus, dass eher solche Unternehmen bereit waren zu antworten, die bereits solide Strategien und Maßnahmen umsetzen“, sagt Riecher. Viele der Befragten hätten sich bereits mit Entwaldung und Umwandlung in ihren Lieferketten beschäftigt. „Doch auch sie haben noch einen weiten Weg vor sich, um verantwortungsvolle Lieferketten aufzubauen, die nachweislich frei von Entwaldung, Umwandlung von Ökosystemen und Menschenrechtsverletzungen sind.“ Nur sechs Unternehmen, die auf die Umfrage des WWF Deutschland antworteten, erreichten über 60 Prozent der verfügbaren Punkte. Bei knapp 50 Prozent lag das durchschnittliche Ergebnis.

WWF und EDEKA kooperieren für nachhaltigere Lieferketten. @EDEKA
Gemeinsam mit dem WWF möchte EDEKA seinen ökologischen Fußabdruck verringern. Dabei sollen auch die Lieferketten der rund 4.000 Eigenmarkenartikel von EDEKA transparenter und nachhaltiger gestaltet werden. @EDEKA

„Eine umfassende Selbstverpflichtung zu entwaldungsfreien Lieferketten, die auch andere wichtige Ökosysteme vor Umwandlung schützt und alle Rohstoffe und Lieferketten betrifft, konnte lediglich ein Unternehmen vorlegen“, so Riecher. Weitere drei Firmen würden sich zwar zu entwaldungs- und umwandlungsfreien Lieferketten bekennen, „doch sie haben nicht alle Rohstoffe und deren gesamte Lieferketten im Blick.“ Bei Rohstoffen wie Palmöl, die schon lange die öffentliche Aufmerksamkeit genießen und deren hohe, potenziell negative Umwelt- und Sozialauswirkungen bei den Endkonsument:innen bekannt sind, zeigt sich, dass die Unternehmen bessere Ergebnisse erzielen. Bei anderen, wie etwa Soja oder Rinderzeugnissen, besteht hingegen noch viel Nachholbedarf. Unter international führenden Unternehmen seien entsprechende Selbstverpflichtungen und Reportings dazu bereits stärker verbreitet.

Die Entwaldungs-Scorecard 2022 zeigt, dass die meisten der 15 antwortenden Unternehmen zwar erste Schritte unternommen haben, um entwaldungsfreie Lieferketten umzusetzen. „Aber es mangelt noch an der Qualität und Wirkung der Maßnahmen“, sagt Riecher. „Von Palmöl abgesehen, sind die nachweisbar umwandlungsfreien Rohstoffmengen noch zu gering. Hier bedarf es noch mehr Engagement, um die selbst gesetzten Ziele zu erreichen.“ Die Ergebnisse belegen, dass sich nur durch Transparenz in der Lieferkette nachvollziehen lässt, ob Rohstoffe allesamt aus legalen und entwaldungsfreien Quellen bezogen wurden. Lieferanten, die gegen ökologische oder soziale Kriterien verstoßen, können nur dann erkannt und ausgeschlossen werden, wenn die Händler in Deutschland wissen, woher ihre Rohstoffe kommen.

„Wir haben wieder einmal festgestellt, dass freiwillige Selbstverpflichtungen die Kettensägen nicht stoppen“, betont Riecher. Deshalb muss im jetzt laufenden EU-Gesetzgebungsverfahren zu Lieferketten sichergestellt werden, dass Rohstoffe und Produkte, die potenziell Natur zerstören, von allen Marktteilnehmern bis zum Feld zurückverfolgt werden können. „Zudem sollte die Bundesregierung die Vergabe von Fördergeldern und die Finanzierung von Projekten daran knüpfen, dass ambitionierte soziale und ökologische Nachhaltigkeitskriterien eingehalten werden. Fördergelder für Naturzerstörung sollte es nicht geben.“ Klar ist für die WWF-Expertin auch: „Erhebungen wie die Entwaldungs-Scorecard werden wir regelmäßig wiederholen, möglichst noch breiter angelegt.“

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