Bereits zum achtzehnten Mal fand in diesem April das jährliche indigene Protestcamp „Freies Land“ in Brasilien statt. Die diesjährige Auflage wird schon jetzt als Meilenstein der Geschichte gehandelt. Das Camp ist die größte indigene Mobilisierung Brasiliens und brach 2022 erneut alle Teilnahme-Rekorde. Insgesamt 7000 Vertreter:innen aus 200 indigenen Völkern waren seit dem 4. April in Brasília zusammen gekommen.
Es war das größte indigene Protestcamp in der Geschichte Brasiliens: Am 14. April 2022 endete das „Free Land Camp“ in Brasília: Elf Tage lang hatten tausende Indigene aus allen Teilen Brasiliens in der Hauptstadt campiert, um für ihre Rechte und gegen die indigenen- und umweltfeindliche Politik der Bolsonaro-Regierung zu demonstrieren. Ein Resümee.
Große Brisanz in diesem Jahr
Aktuell bedrohen verschiedene Gesetzesentwürfe der amtierenden brasilianischen Regierung indigene Rechte und Territorien schwer. Eine Gefahr auch für den Klima- und Artenschutz, denn indigene Gebiete gelten als wichtige Bollwerke gegen die Entwaldung.
Neben dieser Brisanz und den hohen Teilnahmezahlen gaben verschiedene Kernthemen dem Protestcamp 2022 Bedeutung. Darunter die indigene Frauenbewegung, die im ganzen Land an Stärke und Sichtbarkeit gewinnt, das Potential der indigenen Jugend und ihres Zusammenschlusses in sozialen Medien – und die Verantwortung anderer Länder für die Zerstörung des Amazonasgebietes.
Indigene Frauen in die Politik
Acampamento Terra Livre – ATL – ist der portugiesische Name des Prostestcamps „Freies Land“. Einer der Höhepunkte in diesem Jahr war die Vorstellung indigener Frauen, die bei den anstehenden Wahlen in Brasilien für Ämter in den Landes- und Bundesparlamenten kandidieren wollen. Ebenfalls im Ansinnen, indigene Frauen als Führungspersönlichkeiten zu festigen, versammelten sich außerdem über dreißig Führerinnen verschiedenster indigener Organisationen unter dem Motto „Brasilien zurückerobern: Diverse Stimmen der ersten Brasilianerinnen“.
„Wir sind viele, wir sind vielfältig. Und wir sind heute hier im Namen derer, die uns vorausgegangen sind und derer, die noch kommen werden.“ Sônia Guajajara ist bedeutende indigene Aktivistin, Politikerin und Koordinatorin der brasilianischen indigenen Dach-Organisation APIB, die das ATL Protestcamp veranstaltet. Sie betonte, wie wichtig es ist, dass Frauen Räume jenseits ihrer Dörfer besetzen und ermächtigt werden, Debatten zu führen und ein Brasilien aufzubauen, das sie einschließt. Der Kampf um indigene Territorien, für den Schutz des Waldes und der Gewässer werde auch von Frauen geführt, fügte sie hinzu.
„Es ist diese Kraft, die aus dem Grund unserer Erde kommt, die wir darstellen wollen, um Veränderungen in diesem Land zu bewirken.“
Stifte statt Waffen
„Im Dorf war es Tradition, dass wir lernten, wie man einen Kreisel oder eine 'Borduna' – die traditionelle indigene Waffe – benutzt. Aber meine Großmutter sagte immer, dass die Zeit für den Stift kommen würde, und dass die Jüngeren die Stifte in die Hand nehmen müssten. Deshalb besetzen wir akademische Räume und sind heute Meisterinnen und Ärztinnen.“ Juliana Tupinambá leitet die indigene Frauenbewegung im Süden des brasilianischen Bundesstaates Bahía und spricht ein Thema an, welches das 18. Protestcamp „Freies Land“ in Brasília ebenfalls prägte – die indigene Bildung.
„Unsere Eltern und Großeltern haben dafür gekämpft, dass wir studieren können“, erinnert sich Vera Tukano, weitere indigene Sprecherin des Camps. „Wir setzen diesen Kampf fort. Unsere Rechte sind zwar auf dem Papier anerkannt, aber im Klassenzimmer sind sie noch nicht verwirklicht“.
Soziale Medien als Stimmgewalt der indigenen Jugend
Der Weg in die Politik ist eine Möglichkeit, um sich Gehör zu verschaffen, die gekonnte Nutzung sozialer Medien eine andere. Das hat die indigene Jugend Brasiliens längst erkannt und spielt eine wesentliche Rolle in dem, was die indigenen Völker das „Dorf sozialer Netzwerke“ nennen: Die Jugendlichen beherrschen zunehmend Kommunikationstechniken und -instrumente, über welche sie unabhängig der geografischen Entfernung ihrer Gebiete miteinander kommunizieren und mit ihren Erzählungen und Forderungen die Gesellschaft direkt erreichen können. Entstanden ist eine regelrechte, viral verbreitete Bewegung zur Besetzung sozialer Medien. Die indigenen Jugendlichen wollen ihre Völker verbinden, ihren Kampf vereinheitlichen, die Bedrohungen ihrer Gebiete sichtbar machen und Stereotype durchbrechen.
„Wir nutzen die sozialen Netzwerke zum Beispiel, um Vorstöße in unsere Territorien anzuprangern und können eine sehr große Anzahl von Menschen erreichen“, erzählt Ana Raquel Kumarura aus dem Dorf Suruacá am Fluss Tapajós, gute 500 Kilometer östlich von Manaus. Zum ersten Mal in der 18-jährigen Geschichte des Protestcamps konnte die indigene Jugend Brasiliens ihre Ängste und Herausforderungen innerhalb und außerhalb der indigenen Bewegung explizit thematisieren und die eigene Relevanz für die Mobilisierung der indigenen Völker betonen.
Was die Zerstörung des Amazonas mit Europa zu tun hat
Ebenfalls neu in der Geschichte des indigenen Protestcamps war ein Treffen mit dem Europäischen Parlament und den Vereinten Nationen, in welchem die Mitgliedsstaaten in die Verantwortung genommen und aufgefordert wurden, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die Zerstörung des Amazonas zu stoppen. „Ihr redet über den Schutz des Klimas und der Wälder, aber finanziert Rinderzucht und Tod auf unserem Land. Ihr sagt, Ihr wollt den Amazonas schützen, aber kauft das Gold, das das Volk der Yanomami tötet“, kritisierte der indigene Menschenrechtsaktivist Beto Marubo. „Ihr habt Angst vor dem Klimawandel, doch unsere Gebiete sind heute die einzige Garantie dafür, dass sich das Klima stabilisiert.“
Die Europäische Union ist einer der weltweit größten Importeure von Waren, für welche Wälder tropischer Regionen abgeholzt werden. Importprodukte der EU, die in Brasilien in den letzten Jahren am meisten zur Entwaldung beigetragen haben, waren Sojabohnen und Rindfleisch, gefolgt von Holz, Kakao und Kaffee.
Was in Brasilien passiert, geht uns alle an
Immer wieder wiesen die indigenen Sprecherinnen und Sprecher des 18. Protestcamps „Freies Land“ auf die Bedeutung ihrer Gebiete für den Klimaschutz hin und auf die große Gefahr, welche von den aktuellen Gesetzesentwürfen der Bolsonaro-Regierung damit für uns alle ausgeht. So sollen beispielsweise indigene Schutzgebiete für Bergbau, Wasserkraftwerke, Landwirtschaft und große Infrastrukturprojekte geöffnet werden. Die Ursache für die Zerstörung liegt auch in der Nachfrage aus Deutschland und Europa, die Folgen werden den ganzen Planeten betreffen.
- Indigene Völker in Südamerika
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