Auf über 2.500 Metern Höhe lebt Pem Choton in dem kleinen Dorf Nyukmadung mit gerade einmal hundert Haushalten. Von Oktober bis Dezember klettert sie jeden Morgen bei Sonnenaufgang hoch in die Wälder, auf mehr als 2.700 Meter, um mühsam, geduldig und gebückt den Waldboden nach den braunen, sternförmigen Früchten abzusuchen, die auf das dichte Laub fallen.
In den Höhen des östlichen Himalajas wächst ein Baum mit besonderen Früchten: „Lissi“ nennen die Einheimischen den Stern-Anis. Für Yak-Hirtin Pem Choton ist die Ernte eine wertvolle Einkommensquelle – und zugleich ein Weg, den Wald zu schützen. Denn nachhaltige Nutzung bewahrt ihn vor Abholzung. Der WWF unterstützt die Gemeinden in Arunachal Pradesh in Indien dabei, ihre Heimat und Lebensgrundlagen zu sichern.

Der große indische Bundesstaat Arunachal Pradesh, Heimat von Yak-Hirtin Pem Choton, liegt im Nordosten des Landes an der Grenze zu Tibet und Bhutan. Seine Landschaft ist atemberaubend und bis heute außergewöhnlich stark bewaldet.
Eine Vielzahl von Ökosystemen reicht von subtropischen Regenwäldern bis zu alpinen Gebirgsregionen und beherbergt bedrohte Arten wie Schneeleoparden, Rote Pandas und Indische Bisons.
Seit 2022 setzt sich der WWF Deutschland dafür ein, die beeindruckende Region zusammen mit den lokalen Gemeinden vor der Abholzung zu schützen. Denn schon jetzt fressen sich Kohl- und Tomatenfelder der kommerziellen Landwirtschaft selbst an Steilhängen wie riesige, kahle Rechtecke immer weiter in die Natur.
Klettern für den Stern-Anis

„Ich sammle Stern-Anis, seit ich fünfzehn Jahre alt bin“, erzählt Pem Choton. „Höchstens drei bis vier Personen dürfen gleichzeitig zum Sammeln losziehen, sonst verringert sich mit der Zeit die Menge.“ Nachhaltigkeit ist Pem Choton als Angehörige der indigenen Monpa in die Wiege gelegt.
Die buddhistischen Monpa, die traditionell im Einklang mit der Natur leben, gehören zu den vielen indigenen Gemeinschaften, die in Arunachal Pradesh ihre Heimat vor der Zerstörung schützen wollen.
Zwei Säulen zum Erhalt der Wälder
Seit Jahren hilft der WWF den Monpa-Gemeinden in Arunachal Pradesh, eigene gemeindebasierte Schutzgebiete ins Leben zu rufen.
Das Leben ist hart in den abgelegen Gebirgsregionen, etwa zwei Tagesreisen mit Flugzeug und Auto von Delhi entfernt. Die Menschen brauchen nachhaltige Einkommensmöglichkeiten, um die Natur schonen zu können – wie durch das Sammeln von Stern-Anis. Doch dieser muss sich auch vermarkten lassen.
Die nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen und die Schaffung von Gemeindeschutzgebieten sind zwei wichtige Säulen für den Erhalt der Wälder in Arunachal Pradesh.
Die besonderen Rechte der Gemeinden in Arunachal Pradesh

Anders als in vielen Teilen Indiens ist in Arunachal Pradesh ein großer Teil des Landes und Waldes traditionell unter Obhut indigener Gemeinschaften. Das basiert auf Gewohnheitsrecht und ist bisher politisch oder gesetzlich nicht verankert.
Um den Schutz traditioneller Rechte und eine nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen zu gewährlisten, arbeitet der WWF Indien bereits seit 2004 eng mit den Monpa zusammen und hilft ihnen, gemeindebasierte Schutzgebiete (Community-Conserved Areas, CCA) einzurichten.
In diesen CCAs, also Gemeindeschutzgebieten ist ein bestimmter Teil der Wälder für den Schutz reserviert. Es gibt gemeinschaftlich erarbeitete Regeln für die Nutzung natürlicher Ressourcen, um eine Übernutzung zu verhindern und gleichzeitig den ökonomischen Status der lokalen Bevölkerung zu fördern.
„Es braucht immer Vorreiter, die sich engagieren – hier spielen häufig die Frauen und junge Menschen eine ganz entscheidende Rolle.“
Katjuscha Dörfel, Senior Programme Officer Asien, WWF Deutschland
Organisatorische und rechtliche Unterstützung der Gemeindeschutzgebiete
„Manche der Gemeinden sind schon sehr gut organisiert und aktiv im Schutz ihrer einzigartigen Heimat und Naturschätze. Dabei braucht es immer auch Vorreiter, die sich engagieren – hier spielen häufig die Frauen und junge Menschen eine ganz entscheidende Rolle,“ betont Katjuscha Dörfel, die das Projekt beim WWF Deutschland betreut. Trotzdem benötigen viele andere Gemeinden weiterhin Unterstützung beim Aufbau ihrer Komitees für das Management der Gemeindeschutzgebiete, bei der Planung und Umsetzung.
Der WWF gibt wichtige Starthilfe. Wir vermitteln außerdem zwischen den Gemeinden und den nationalen Behörden, stärken die traditionellen Rechte und sind dabei, einen geeigneten politischen Rahmen für Gemeindeschutzgebiete mit der Landesregierung auszuarbeiten.
Sternförmige Hoffnung

Unterstützung brauchen die Menschen in Arunachal Pradesh ebenfalls, um sich ihren Lebensunterhalt zu sichern. „Wir Frauen arbeiten hart. Für viele von uns ist der 'Lissi', den wir einmal im Jahr verkaufen, unser wichtigstes Einkommen in der Familie.“ Die 46-jährige Pem Choton ist eine „Brokpa“. So werden die Yak-Hirtinnen und -Hirten unter den Monpa genannt.
Das Sammeln von Stern-Anis ist für die Brokpa eine lebenswichtige Einkommensalternative in der wetterbedingt hirtenfreien Zeit, in welcher sie den Weidegebieten bewusst eine Pause gönnen, um diese nicht zu übernutzen.
Stern-Anis ist leicht zu lagern und wird weltweit in Gewürzen, Medikamenten und Duftstoffen verwendet. Er hat also großes Potential. Doch die Preise sanken in den letzten Jahren.
Handel mit Stern-Anis noch schwierig
„Wenn die Nachfrage schwindet, schwindet auch unser Selbstwertgefühl und unsere Unabhängigkeit“, erzählt Pem Choton. Denn die traditionelle Verwendung von Stern-Anis zum Aromatisieren von Buttermilchtee und alkoholischen Getränken sowie als Mittel gegen Husten, Nebenhöhlenentzündungen und Zahnschmerzen gerät mehr und mehr in Vergessenheit.
Die internationalen Märkte werden von kommerziell angebauten Produkten aus China und Vietnam dominiert. Der Handel mit Stern-Anis aus Arunachal Pradesh ist unreguliert, die Preise bestimmen dubiose Zwischenhändler. Der WWF unterstützt die Gemeinden deshalb bei der nachhaltigen Ernte von sogenannten Nichtholz-Waldprodukten wie dem Stern-Anis und stellt wichtige und faire Marktverbindungen her.
Nachhaltige Produkte aus dem Wald

Die meisten Sammler:innen wissen nicht, wie viel ihre Produkte eigentlich wert sind. In Zukunft sollen die Menschen in den Gemeindeschutzgebieten mit Unterstützung des WWF in die Lage versetzt werden, den Handel gemeinsam und selbst zu organisieren, um gerechtere Preise zu erzielen.
Schon heute haben viele der Gemeinde-Komitees außerdem Maßnahmen beschlossen, um Ernte-Einbrüchen entgegenzuwirken. So dürfen die Früchte des Stern-Anis nicht gepflückt, sondern nur vom Boden gesammelt werden. Auch das Fällen von Bäumen zur Holzgewinnung wurde vielerorts verboten, Zuwiderhandlungen mit hohen Strafen belegt.
Ähnliche Maßnahmen gelten dem Szechuan-Pfeffer – auch er ist ein vielversprechendes Nichtholz-Waldprodukt aus Arunachal Pradesh.
Weg von Abholzung und Pestiziden
Nichtholz-Waldprodukte sind nur eine umweltfreundliche Möglichkeit, um in der Region alternative Einkommen zu schaffen. Eine weitere ist die nachhaltige, kleinbäuerliche Landwirtschaft. Momentan haben jedoch in einigen Gebieten die lokalen Bäuer:innen selbst auf den Monokulturanbau von Kohl und Tomaten umgestellt, um ihr Cash-Einkommen zu maximieren.
Fahrende Händler:innen drehen ihnen überdies in der entlegenen Region giftige Pestizide an, die in Indien eigentlich längst verboten sind. Um das einzudämmen, betreibt der WWF wichtige Aufklärungsarbeit. Monokulturen und Pestizide schaden der Natur und verschlechtern die Böden, wodurch immer neue Felder und Hänge gerodet werden müssen.
Das WWF-Projekt in Arunachal Pradesh

In 40 Dörfern mit insgesamt über 1.000 Haushalten arbeitet der WWF in den Distrikten Tawang und West Kameng an der Grenze zu Bhutan und Tibet daran, Gemeindeschutzgebiete zu stärken und alternative, nachhaltige Einkommen zu schaffen, um die wertvollen Wälder der Region zusammen mit den Menschen vor Ort zu schützen.
Mittlerweile gibt es neun Gemeindeschutzgebiete (CCAs) in den beiden Distrikten. Im gesamten Bundesstaat sind es 26 Schutzgebiets-Initiativen, die von Gemeinden angeführt werden.
Tawang ist der nordwestlichste Distrikt von Arunachal Pradesh, hoch im Himalaya, auf rund 3.000 Metern und bevölkert vor allem von der Monpa-Gemeinschaft mit vielen traditionellen Yak-Hirten (Brokpa). West Kameng liegt direkt südlich von Tawang, etwas tiefer, aber ebenfalls gebirgig und sehr waldreich. Auch hier leben viele Monpa und andere indigene Gruppen wie die Aka und Sherdukpen. Die Region ist bekannt für ihre außerordentlich reiche Biodiversität, als Hotspot für Vögel, unzählige Rhododendron-Arten und viele seltene Tiere wie Schneeleoparden und Rote Pandas. Wir müssen dieses grüne Juwel der Natur in den Bergen des indischen Himalajas unbedingt erhalten!
Das Projekt des WWF Deutschland in Arunachal Pradesh wird gefördert vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im Rahmen des Fördertitels für private deutsche Träger(bengo).
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Ein Restaurant im Reich des Roten Panda
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Himalaja-Region - das Dach der Welt