An der Tideelbe, dort wo der Elbstrom ins Meer mündet, ändert die Tide zweimal täglich die Fließrichtung und den Wasserstand. Mit jeder Flut dringt Salzwasser in den Fluss ein, Süß- und Salzwasser mischen sich dann, eine Brackwasserzone entsteht. Der Einfluss der Tide ließ wertvolle Lebensräume in den Unterelbmarschen entstehen. Wat-, Wasser- und Wiesenvögel brüten hier. In den Flachwasserzonen laichen seltene Fischarten. Viele Insekten leben im Röhricht, das auch zahlreichen gefährdeten Vogelarten Brutmöglichkeiten bietet. Und etliche Arten fühlen sich nur unter den extremen Bedingungen wohl, wie die Gezeiten sie hier schaffen.

Die Tideelbe ist das größte Ästuar in Deutschland und auch eines der größten Ästuare Europas. Sie steht weitgehend unter europäischem Naturschutz. Dieser Ästuar-Lebensraum ist Kernstück des geplanten Naturschutzgroßprojektes Krautsand.

Ästuare sind Lebensräume, die vom täglichen Einfluss von Ebbe und Flut abhängig sind. Mit jeder Flut ändert sich der Wasserstand und Salzwasser dringt in den Fluss ein. Süß-und Salzwasser mischen sich dann, eine Brack­wasserzone entsteht. Diese besonderen Lebensräume werden zudem von unregelmäßig auftretenden Extremereignissen wie zum Beispiel Sturmfluten geprägt.

Eiszeit prägt Ästuar-Landschaft

Ehemaliger Priel Kahlesand © Claudi Nir / WWF Deutschland
Ehemaliger Priel Kahlesand © Claudi Nir / WWF Deutschland

In der Phase nach der Eiszeit drang die Nordsee in das Urstromtal der Elbe ein, das Elbe-Ästuar entstand. Ursprünglich war es eine amphibische Landschaft – also eine Landschaft zwischen Land und Wasser –, in der sich die Elbe und die Gezeitenströme ihre Wege durch die abgelagerten Sedimente bahnen mussten. Mit dem nacheiszeitlichen Meeresspiegelanstieg bildeten sich Küsten- und Flussmarschen sowie ausgedehnte Moore.

In den Abschnitten, in denen sich besonders viele Sedimente abgelagert haben – zum Beispiel am Übergang zum Wattenmeer und im Binnendelta der Elbe bei Hamburg – verteilte sich der Abfluss auf mehrere Rinnen. Auch die Hauptrinnen waren instabil und seicht. Immer wieder verlagerten sich große Sandbänke im Mündungsbereich, was zur Folge hatte, dass sich die Mäanderschleifen der Unterelbe immer wieder verschoben.

Die Ästuar-Landschaft wandelte sich immer wieder – sie war also im wahrsten Sinne des Wortes eine Landschaft im Fluss.

Von der Natur- zur Kulturlandschaft

Seit Jahrhunderten prägen die Menschen die Landschaft des Ästuars. Doch erst in den vergangenen 150 Jahren, mit Beginn der Industrialisierung und entsprechenden technischen Möglichkeiten, veränderten die Menschen die Natur- und Kulturlandschaft tiefgreifend.

Noch im 18. Jahrhundert waren die tiefer gelegenen Flächen des heutigen Planungsraumes von einem Nebenarm der Elbe umgeben: Krautsand und Asselersand waren damals noch Inseln – typische Lebensräume für eine Ästuar-Landschaft. Sie standen bis zum Bau einer neuen Elbe-nahen Deichlinie in den 70iger Jahren des letzten Jahrhunderts bei Sturmflut regelmäßig komplett unter Wasser. Die Hochwässer spülten die Priele des Ästuars regelmäßig frei.

Priele sind natürliche Wasserläufe in Watt- oder Marschlandschaften, die sich immer wieder verändern.

Was sind Priele?

Doch nach und nach wurde die Unterelbe zu einer Landschaft mit scharfen Grenzen zwischen Land und Wasser. Die Menschen begannen, die Küsten zu befestigen und die Flächen dahinter mit Deichen zu schützen, um auf den fruchtbaren Böden Landwirtschaft zu ermöglichen. Es entstand Ackerland, Obstanbauflächen und Grünland für die Viehhaltung.

Das Ziel: Kultur- und Naturlandschaft im Einklang

Obwohl das Elbeästuar ein vom Menschen intensiv genutzter Raum ist, dient es vielen seltenen und gefährdeten Tier- und Pflanzenarten als Lebensraum.

Ziel des Naturschutzgroßprojekts Krautsand ist eine tidebeeinflusste Kulturlandschaft mit ausgedehnten und vernetzten Grünländereien, durchzogen von artenreichen Gräben. Auch Elemente der Naturlandschaft, wie tidebeeinflusste Gewässer mit Flachwasserzonen, Wattflächen, umfangreiche Röhrichte, Uferstaudenflure, Weidengebüsche und Tideauwälder sollen Teil der Landschaft sein. Gräben, Priele und Marschflüsse sollen mit der Tideelbe verbunden und für Fische und andere Gewässertiere passierbar sein.

Elemente des Ästuar-Lebensraumes

Artenreicher Grünland-Graben-Komplex

Sumfpdotterblume an einem Wassergraben © blickwinkel / McPHOTO / Rolfes
Sumfpdotterblume an einem Wassergraben © blickwinkel / McPHOTO / Rolfes

Artenreiches Grünland ist vor allem eine Folge der Nutzung der Flächen durch die Landwirtschaft. Es ist Lebensraum und Brutgebiet für viele inzwischen selten gewordene Wiesenvögel wie Bekassine und Kiebitz und dient vielen Gastvögeln als Rastplatz. Auf extensiv genutzten Grünländereien blühen unter anderem Wiesenschaumkraut, Schachblume und der Großblütige Klappertopf. Mit ihrer Vielfalt an Strukturen und Pflanzen bieten Wiesen und Weiden zudem Lebensraum für eine große Zahl an weiteren Tierarten wie Heuschrecken und Spinnen bis hin zur kaum überschaubaren Kleinlebewelt der Blütenbesucher.

Zusammen mit dem umfangreichen Grabensystem bildet das Grünland den Grünland-Graben-Komplex. Die Gräben sind Lebens- und Nahrungsraum vieler bedrohter Fische und Pflanzen, Libellenlarven, Enten und anderer Gewässerlebewesen. An den Ufern wachsen zum Teil seltene Arten, wie Sumpfdotter- und Schwanenblume. Weil die Flächen zunehmend intensiv genutzt werden und die Gräben aufwändig zu unterhalten sind, sind artenreiche Grünland-Graben-Komplexe selten geworden – mit eine Ursache für den bundesweit starken Rückgang der Insektenvielfalt.

Flachwasserzonen

Ästuartypische Lebensräume auf Krautsand © Claudi Nir / WWF Deutschland
Ästuartypische Lebensräume auf Krautsand © Claudi Nir / WWF Deutschland

Flachwasserzonen sind für Ästuare charakteristische Lebensräume. Sie erfüllen wichtige ökologische Funktionen: Sie sind die Kinderstube von Fischen – hier laichen sie, hier wachsen die Fische heran. Flachwasserzonen dienen vielen Wasservögeln auch als Nahrungsgebiet und sind Lebensraum für eine Vielzahl kleiner Lebewesen, wie Insektenlarven, Muscheln, Krebse und Würmer – um nur einige zu nennen.

In Flachwasserzonen ist der durchlichtete Bereich, in dem Algen durch Photosynthese Sauerstoff produzieren, im Verhältnis zum undurchlichteten Bereich, in dem Sauerstoff verbraucht wird, groß. Daher dienen Flachwasserzonen der Sauerstoffversorgung und können als „Lungen“ des Gewässersystems bezeichnet werden. Sie sind zudem wichtiger Lebens- und Nahrungsraum für Rast- und Entenvögel.

Wattflächen

Fähre Wischhafen © Claudi Nir / WWF Deutschland
Fähre Wischhafen © Claudi Nir / WWF Deutschland

Wattflächen gehören zu den typischen Biotopen eines Ästuars, Süß- und Brackwasserwatten kommen ausschließlich in Ästuaren vor. Das Watt ist ein extremer Lebensraum: Er unterliegt den Kräften und dem täglichen Rhythmus von Ebbe und Flut, ist geprägt von starker Wärmeeinstrahlung im Sommer, Eisbildung im Winter sowie von steter Erosion und Sedimentation.

Trotz der widrigen Bedingungen ist das Watt Lebensraum für viele Lebewesen, die die Grundlage für eine lange Nahrungskette des Ästuar-Ökosystems bilden. Kleinste Organismen bauen im Watt organische Partikel und Schwebstoffe ab und setzen dabei Nährstoffe frei. Diese dienen vor allem Kieselalgen als Nahrung, die Algen wiederum bringen Sauerstoff in das Gewässer ein. Zudem können auf einem Quadratmeter Süßwasserwatt mehr als 270.000 Individuen an verschiedenen Würmern und Rädertierchen leben. Von diesen Würmern sowie von kleine Muscheln und Schnecken ernähren sich bei Niedrigwasser Wat- und Wasservögel. Bei Flut dienen sie den Fischen als Nahrung.

Und auch die Flora im Watt ist besonders: Der Schierlings-Wasserfenchel wächst nur in Süßwasserwatten in Tiefen von 0,4 bis 1,3 Metern unter Mittlerem Tidehochwasser, das heißt in einem Bereich, in dem auch das Schilf auf Wattflächen am besten wächst. Vegetationsfreies Schlick- Sand- und Mischwatt gehört zu den nach der FFH-Richtlinie zu den geschützten Lebensräumen. Ihr Vorkommen in den Wasserläufen auf Krautsand in ein Grund, weshalb Teile des Gebietes als europäisches Schutzgebiet ausgewiesen sind.

Röhricht

Ausgedehnte Röhricht-Fläche © Claudi Nir / WWF-Deutschland
Ausgedehnte Röhricht-Fläche © Claudi Nir / WWF-Deutschland

An Ästuaren bilden Röhrichte häufig die Vorposten zur höheren Pflanzenwelt, sie haben eine zentrale ökologische Funktion für den Erhalt der Artenvielfalt in Ästuaren.

Süßwasserwatt-Röhricht und auch Rörichte des Brackwasserwatts werden auf der Roten Liste der gefährdeten Biotoptypen in Niedersachen als stark gefährdet eingestuft. Auf der bundesweiten Roten Liste sind Röhrichte als gefährdet bis stark gefährdet eingestuft (BFN 2017). Großflächige Röhrichtbestände sind Brutgebiet und Lebensraum für viele unter Schutz stehender Vogelarten wie Rohrdommel, Rohrweihe, Sumpfohreule und Tüpfelsumpfhuhn.

Aber auch kleinere Lebewesen brauchen Röhrichte: So dienen die hohlen Schilfstiele beispielsweise als Winterquartier für Asseln, Spinnen und Käfer. Aber auch die Larven von Schmetterlingen nutzen Röhrichte als Nahrungs- und Lebensraum.

Tideauwald

Auwald an der Tideelbe © Claudia Stocksieker / WWF
Auwald an der Tideelbe © Claudia Stocksieker / WWF

Im Anschluss an die wasserseitig vorgelagerten Röhrichte oder auch Wattflächen befindet sich der Lebensraum Tideauwald. Tideauwald, als typisches Element der Naturlandschaft, kommt nur im Süßwasserbereich von Ästuaren vor und ist europaweit vom Aussterben bedroht. Er gehört nach der europäischen Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH-RL) zu den prioritär zu schützenden Lebensräumen in Europa und ist Lebensraum spezialisierter Tier- und Pflanzenarten. Dies sind insbesondere Arten mit Bindung an Überflutungen und Waldarten mit Bindung an bestimmte Baumarten sowie Arten mit Bindung an die Biotopkombination „Wald-Wasser“. Das Vorkommen von Auwald auf Krautsand in ein Grund, weshalb Teile des Gebietes als europäisches Schutzgebiet ausgewiesen worden sind.

An Ufern, die von einer häufigen natürlichen Überflutungsdynamik geprägt sind, können sich Weichholzauen bestehend aus Tide-Weiden-Auwäldern, Weiden-Auengebüschen und Uferstaudenfluren der Stromtäler bilden. Die mechanische Beanspruchung durch die Tidedynamik ist wichtig, damit die Sukzession (Entwicklung des Pflanzenwachstums) der Röhrichte und Auwälder immer wieder unterbrochen wird und neue Strukturen entstehen, zum Beispiel Gebiete mit umgestürzten, totholzreichen und wieder austreibenden Bäumen. Daran anschließend können in höheren Lagen, die in einer deutlich geringeren Frequenz überflutet werden, Eichen-Ulmen-Hartholzauwälder und Giersch-Eichen-Eschen-Marschenwälder entstehen.

Die arten- und strukturreichen Tideauwälder bieten durch ihre Unzugänglichkeit einen geschützten Lebensraum und Brutplatz für viele Arten wie zum Beispiel den Seeadler (Haliaeetus albicilla), Beutelmeise (Remiz pendulinus) und Waldschnepfe (Scolopax rusticola). Ihre Randbereiche bieten auch Lebensraum für den vom Aussterben bedrohten Schierlings-Wasserfenchel (Oenanthe conioides).

Europa- und bundesweit sowie in Niedersachen gilt dieser Biotoptyp als vom Aussterben bedroht. Die Schaffung von neuen Standorten für Tideauwaldbiotope ist von sehr hoher Bedeutung für den Erhalt der Vielfalt an Lebensräumen in Europa.

  • Ästuartypsiche Lebensräume in der Wischhafener Süderelbe © Claudi Nir WWF 1 Das Naturschutzgroßprojekt Krautsand

    Der WWF Deutschland will gemeinsam mit er NABU-Stiftung die Lebens­räume an der Tideelbe im Land­kreis Stade in Niedersachsen nachhaltig schützen und neue schaffen. Weiterlesen ...