„Wir werden ein größeres Boot brauchen“: Der Satz von Chief Brody beim ersten Anblick des „Weißen Hais“ im gleichnamigen Filmklassiker kommt mir in den Sinn, als von der Küste eine dreieckige Rückenflosse direkt auf unser Boot zusteuert.

Wie ein Messer zerschneidet das dunkle Dreieck die spiegelglatte Wasseroberfläche. Plötzlich taucht, zwei, drei Meter dahinter, eine zweite Rückenflosse auf. Sie ist kleiner und folgt synchron der ersten. „Basking Shark“ ruft Skipper Tom und stellt den Motor ab. Es ist tatsächlich ein Riesenhai, der auf uns zukommt – die Doppelspitze hat ihn verraten.

Während alle an Bord hektisch zu Kameras und Ferngläsern greifen, schätze ich unwillkürlich die Länge unseres Boots ab: acht, höchsten neun Meter ist es lang. Riesenhaie sind die zweitgrößten Fische der Erde und werden bis zu zwölf Meter lang. Warum in Dreiteufelsnamen hat unser Käpten den Motor ausgemacht? Auf meinen besorgten Gesichtsausdruck hin antwortet er nur lächelnd „Don’t worry“.

Der Hai ist weggetaucht. Aber wohin? Fieberhaft suchen wir die spiegelnde Meeresoberfläche ab. Ob er auf einmal unter uns auftaucht und unserem Schiff einen kräftigen Schubs gibt wie der Weiße Hai aus Hollywood?

„Naja“, sagt Tom, „Riesenhaie sind überhaupt nicht angriffslustig. Wir sollten nur nicht unbedingt ihre Fressroute versperren. Dann könnte es zur Kollision kommen, weil sie nicht auf uns achten.“ Deshalb fährt unser Käpten auch nicht hinter ihnen her und rückt ihnen auf die Pelle, sondern wartet diskret, bis sich uns die Kolosse nähern.

Schwergewichtiger Wasserschlucker

Riesenhai bei der Nahrungsaufnahme © naturepl.com / Alan James / WWF
Riesenhai bei der Nahrungsaufnahme © naturepl.com / Alan James / WWF

Riesenhaie sind Planktonfresser. Menschen stehen nicht auf ihrem Speiseplan. Doch mit bis zu sieben Tonnen Gewicht könnten sie uns empfindlich rammen.

Da: Vielleicht 100 Meter von uns entfernt tauchen die charakteristischen doppelten Rückenflossen wieder auf. Und auf einmal noch drei weitere. Hier treffen sich offenbar Riesenhaie zum Mittagessen. Weil hier vor der schottischen Westküste ihr Futter, kleine Krebse, Fischlarven und Einzeller, millionenfach von einer kalten Strömung aus der Tiefe nach oben getragen werden, kurven die Riesen mit geöffnetem Großmaul knapp unter der

Oberfläche durchs Wasser und schlucken alles ganz bequem herunter. Dabei saugen sie das Wasser nicht aktiv ein, sondern lassen es durch ihre Kiemenreusen strömen. Bei ca. zwei Knoten Schwimmgeschwindigkeit – das entspricht etwas mehr als einem Meter pro Sekunde – filtert ein ausgewachsener Riesenhai jede Stunde etwa 2.000 Tonnen Wasser.

Langsam kommen sie auf uns zu. Dabei schwimmen sie offenbar hintereinander her. Wenn wir es nicht besser wüssten, könnten wir die Kolonne an Rückenflossen glatt für ein mehrfach gezacktes Meeresungeheuer halten. Vielleicht entstanden früher so die Geschichten über Riesenseeschlangen.

Jetzt sehen wir die Körperumrisse des ersten Riesenhais durchs Wasser schimmern. Was für ein Koloss: Rund sieben Meter lang mag er sein, seine Oberseite ist graubraun. Seine spitz zulaufende Schnauze hat etwas ungemein schnittiges, wäre da nicht das gigantische dunkle Maul, das wie ein riesiger geöffneter Staubsaugerbeutel darunter erscheint. Da würde glatt ein Mensch hinein schlüpfen können, ohne den Rand des Mauls zu berühren. Wie gut, dass der Riesenhai auf marine Peanuts steht.

Majestätisch gleitet der Koloss an uns vorbei. Für ein Schwergewicht von fünf bis sieben Tonnen eine reife Leistung. Sein Geheimnis ist seine Leber: Sie ist gigantisch und wiegt rund ein Viertel des Gesamtgewichtes. Aber sie ist extrem ölhaltig. Dieses Öl, leichter als Wasser, neutralisiert sozusagen das enorme Gewicht des Riesenhais im Meer und lässt ihn so mühelos durchs Wasser gleiten.

Leichte Beute

Der ölhaltigen Leber sowie ihrer Flossen und ihres Fleisches wegen wurden Riesenhaie seit den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts intensiv gejagt.

Weil sie so langsam schwimmen und sich gern in Küstennähe aufhalten, waren sie immer leichte Beute für Fischer. Und weil sie, wie alle Haie, erst spät geschlechtsreif werden und sich nur langsam vermehren (die lebendgebärenden Weibchen sind rund drei Jahre schwanger), schrumpften ihre Bestände dramatisch. Im Jahr 2005 wurde der Riesenhai in den Anhang I der Bonner Konvention (CMS) aufgenommen, erhielt damit den höchsten Schutzstatus und darf seither in 93 Vertragsstaaten nicht mehr gejagt werden.

Doch die große Nachfrage in ostasiatischen Ländern hält den Jagddruck auf die Tiere bis heute aufrecht, hat sich mittlerweile sogar erhöht. Für die Flossen eines einzelnen Haies auf den Märkten von Hongkong zum Beispiel werden bis zu 2.300 Euro bezahlt.

Dann lieber Shark-Watching: Hier an der schottischen Westküste ist das Beobachten der Riesenhaie mittlerweile fast genauso beliebt wie Wale beobachten. Viele Familien leben davon, Touristen in kleinen Booten zu den Riesenfischen herauszufahren. Und wenn alle so diskret Abstand halten wie Tom, schadet das auch keinem Tier.

Mittlerweile sind alle drei Riesenhaie an uns vorbeigezogen und fast ohne Kräuseln von Wellen wieder in die Tiefe geglitten. Wir verstauen gerade unsere Kameras, als Tom erneut ausruft: „Basking shark. This one is much bigger!“