Taimyr beheimatete noch im Jahr 2000 die größte Rentierpopulation der Welt mit rund einer Million Tiere. Gut zwanzig Jahre später ziehen nur noch etwa 250.000 wilde Rentiere durch die weite Tundra und Taiga-Landschaft in diesem Teil Sibiriens.
Beginnen wir mit der traurigen Nachricht: Den wilden Rentieren der Taimyr-Region in der Russischen Arktis geht es nicht gut. Seit Jahren gehen ihre Zahlen zurück, nun zeigen Zählungen aus dem September 2021, dass ihr Bestand erneut eingebrochen ist.
Wilderei und Klimakrise machen den Rentieren zu schaffen

Verantwortlich für diese traurige Entwicklung sind vor allem die Wilderei und die Klimakrise. Wenn es im Winter als Folge der Erderhitzung immer öfter regnet anstatt zu schneien, sind Moose und Flechten mit einer Eisschicht überzogen und können von den Rentieren nicht mehr erreicht werden.
Wenn weniger Nahrung zu Verfügung steht, haben die Rentiere im Frühjahr weniger Nachwuchs. Außerdem werden die Wanderungen zu ihren Sommerweiden immer öfter zu einem Kampf gegen das Ertrinken. Denn die Flüsse, die die Rentiere dabei überqueren müssen, wären normalerweise im Frühjahr noch zugefroren.
Nun tauen sie immer früher im Jahr auf. Anstatt zu laufen, müssen die Rentiere plötzlich schwimmen. Die frisch geborenen Rentierjungen sind zu dieser Zeit noch viel zu zart, um die reißenden Flüsse durchschwimmen zu können. Die Muttertiere müssen sie am Ufer zurücklassen oder zusehen, wie ihre Jungen ertrinken. Im schlimmsten Fall warten am anderen Flussufer dann Wilderer, töten die erwachsenen Tiere oder schneiden ihnen bei lebendigem Leib die Geweihe ab. Viele Rentiere sterben erst später an solchen Verletzungen der Geweihe, die in der Wachstumsphase noch von Blutgefäßen versorgt werden.
„Wenn wir die illegale Jagd nicht bremsen, könnte die Zeit der riesigen Rentierherden in Nord-Sibirien bald vorbei sein.”
warnt Eva Klebelsberg, Referentin für arktische Regionen beim WWF Deutschland
GPS-Halsbänder liefern wertvolle Informationen

Trotz dieser dramatischen Situation gibt es auch gute Nachrichten aus Taimyr. Kleine und größere Erfolge, von engagierten Naturschützer:innen gegen teils harte Widerstände erkämpft, und mithilfe vieler großzügiger Spender:innen ermöglicht. Erfolge, die Mut machen!
2018 startete der WWF eine Spendenaktion zum Schutz der Rentiere in der Taimyr-Region in der Russischen Arktis. Damals war das Thema bei den russischen Behörden noch kaum präsent. Das ist heute anders.
Die WWF-Kampagne hat die Situation der Rentiere überhaupt erst auf die Tagesordnung gebracht. Zum ersten Mal wurden Maßnahmen zum Schutz der Tiere finanziert, Rentiere mit GPS-Halsbändern versehen und Ranger:innen auch außerhalb von Schutzgebieten eingesetzt. Durch die Senderdaten wurde das Problem der gefährlichen Flussüberquerungen erst sichtbar. Ranger:innen konnten die Rentierherden lokalisieren, den Jungtieren helfen und die Wilderei bekämpfen, indem sie Flussabschnitte sichern, die die Rentiere zur Durchquerung nutzen.
Entscheidender Schlag gegen Wilderei

Nur ein knappes Jahr später, im Februar 2019, gelang einer vom WWF unterstützten Anti-Wilderer-Einheit ein entscheidender Schlag gegen den illegalen Rentierhandel. In der Republik Sakha konnte ein Lastwagen gestoppt werden, der Geweihe und Fleisch von mindestens 1.000 wilden Rentieren geladen hatte. Die Tiere wurden vermutlich alle in der Taimyr-Region geschossen. Fast sechs Tonnen wogen die Geweihe, die die Wildhüter sicherstellten. 27 Rentierkadaver befanden sich außerdem unter der illegalen Beute.
Dem Aufgriff der Wilderer ging eine umfangreiche Vorarbeit des WWF in der Region voraus. Mit Hilfe von inzwischen mehr als 40 Satellitenhalsbändern wurde verfolgt, welche Wanderrouten die Rentiere nehmen. Dass die Daten dieser Halsbänder zwei Jahre später sogar Zählungen von Rentieren erleichtern und zur Einrichtung eines neuen Schutzgebietes führen würde, war zu dieser Zeit noch gar nicht absehbar.
Der WWF unterstützte 2019 außerdem Untersuchungen der lokalen Behörden, um die Hotspots der Wilderei und die Transportwege der Wilderer aufzudecken. Durch die Hilfe von Spendengeldern konnte eine neue Anti-Wilderer-Brigade ausgerüstet werden. Und als im Winter das Benzin der Ranger:innen knapp wurde, sprang wieder der WWF ein. Ein wichtiger Ansatz ist auch die Förderung der Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen den Anti-Wilderei-Einheiten in den verschiedenen Provinzen.
Neues Schutzgebiet und ein Dekret zum Schutz vor Wilderei

Und es folgten noch zwei großartige Erfolge: Auf Druck des WWF und von lokalen Behörden erließ die Verwaltung in Krasnojarsk 2019 ein Dekret, das die Entnahme von Geweihen im durchbluteten Bast am lebenden Tier unter Strafe stellt.
Das ist deshalb so wichtig, weil nach Schätzungen rund 70 Prozent der betroffenen Rentiere aufgrund solcher Verletzungen verbluten oder an den Folgen von Blutvergiftungen sterben und auch, weil viele Rentiere nur wegen der Geweihe getötet wurden.
Außerdem wurde 2021 im Nordosten der Region Krasnojarsk mit Unterstützung des WWF ein staatliches Naturschutzgebiet von mehr als 2.000 Quadratkilometer Größe eingerichtet, das Reservat Vivi-See. Der noch kaum erforschte Vivi-See ist der größte Süßwassersee in Ewenkia und ein wichtiges Laichgebiet für bedrohte Fisch- und seltene Vogelarten.
„Das Gebiet ist auch deshalb wichtig, weil es von Wanderkorridoren für Wildrentiere durchzogen ist.“
Vladimir Krever, Leiter des WWF-Programms für biologische Vielfalt in Russland
Dass ein neues Schutzgebiet ausgewiesen wird, gehört zu den größten Erfolgen im Naturschutz. Für die Einrichtung sind verlässliche und langfristige Daten über die Wanderrouten der Rentiere unverzichtbar. So können zum Beispiel Kalbungsgebiete, Winter- und Sommerweiden ausgemacht werden, die möglichst ungestört bleiben sollten. Hier kamen also wieder die Daten der GPS-Sender ins Spiel.
Diese Senderdaten ermöglichten auch eine viel genauere Planung der Flugzählungen im September 2021. So wussten die Expert:innen schon im Vorfeld, wo sich die Rentiere in den Weiten der Tundra aufhielten und konnten sie vom Flugzeug aus zählen.
Der Druck auf die Rentiere wird stärker – unser Einsatz auch

Solche Erfolge zeigen eindrücklich, wie wichtig die Unterstützung der lokalen Naturschützer:innen auch von Deutschland aus ist.
Die Erderhitzung wird den Druck auf die Rentiere und die ganze Arktis in Zukunft noch verstärken. Die Tiere werden sich in kürzester Zeit an einen stark veränderten Lebensraum anpassen müssen. Das kann nur starken und gesunden Populationen gelingen.
Eva Klebelsberg vom WWF Deutschland erklärt: „Schon jetzt beobachten Forscher:innen, dass sich Wanderrouten einzelner Rentierherden verändern oder zeitlich verschieben. Umso wichtiger ist, dass Wilderei oder die Zerschneidung der Landschaft durch den Ausbau von Infrastruktur die Rentiere nicht noch zusätzlich bedrohen.“
Auch für die Einrichtung von Schutzgebieten und Wanderkorridoren wird sich der WWF gemeinsam mit seinen Partnern in Zukunft einsetzen. Gerade jetzt, wo die Zahlen so dramatisch zurückgehen, brauchen die Rentiere unsere Hilfe mehr denn je.
-
Rentiere in der Russischen Arktis stark bedroht